Mittwoch, 09. Oktober 2024
Die Versicherungsbranche steht vor zwei gewaltigen Herausforderungen: Schadeninflation und Fachkräftemangel. Entsprechend suchen die Unternehmen Lösungen, um den Schadenaufwand zeitnah signifikant zu senken und die Produktivität zu steigern. Hier kommt auch Technologie ins Spiel. Und damit verbunden die Frage, ob die aktuellen Entwicklungen bei Künstlicher Intelligenz (KI) den Versicherern gute Antworten bieten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Versicherungswirtschaft heute.
Grafik: Eucon
GenAI: Hype und Hindernisse
Generative KI (GenAI) ist zweifellos eine der aufregendsten technologischen Entwicklungen der letzten Jahre. Die Fähigkeit, Texte, Bilder und sogar ganze Szenarien und Prozesse zu generieren oder zu modifizieren, sorgt sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wirtschaft für Begeisterung. In der Versicherungsbranche wird diese Technologie oft als potenzieller Game-Changer dargestellt – imstande, Prozesse zu revolutionieren und die Effizienz zu steigern.
Trotz des großen Potenzials gibt es auch kritische Stimmen. Laut Lünendonk®-Studie werden neben dem Faktor Zeit und Ressourcenknappheit (77 Prozent) vor allem unzureichende Data Governance, Unsicherheiten beim Datenschutz und regulatorische Hürden (69 Prozent) als zentrale Hindernisse für die Einführung von generativer KI genannt.
57 Prozent der Befragten sehen zudem in der mangelnden Ergebnisqualität einen weiteren Hemmfaktor. Die Implementierung von GenAI in Versicherungsprozesse ist daher nicht ohne Herausforderungen. Die Technologie erfordert erhebliche Investitionen in Infrastruktur, Schulung und Integration. Darüber hinaus ist sie in vielen Bereichen noch nicht ausreichend entwickelt, um zuverlässig in hochregulierten Umgebungen wie der Versicherungsbranche eingesetzt zu werden.
Auch der Gartner Hype Cycle zeigt, dass viele vermeintliche „Game-Changer“-Technologien wie GenAI zwar den Gipfel der überzogenen Erwartungen überschritten haben, doch für den praktischen Einsatz in stark regulierten Branchen wie der Versicherungswirtschaft oft noch nicht hinreichend ausgereift sind. Neben dem Zeitfaktor stellt sich folglich die zentrale Frage: Ist GenAI wirklich das passende Werkzeug für die aktuellen Herausforderungen der Branche?
Begrenzte Rolle von GenAI bei der Prozessoptimierung
Schadeninflation und Fachkräftemangel sind derzeit zwei der drängendsten Herausforderungen gerade für Sachversicherer. Die internen und externen Aufwände für Versicherungsprodukte steigen, während gleichzeitig personelle Ressourcen knapp werden, um die damit verbundenen Prozesse, insbesondere im Schadenmanagement, angemessen zu bearbeiten. Dabei liegt es nicht daran, dass die Produkte nicht gut sind. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Massenprodukte ausgereift und ‚commoditized‘ sind und die Markterwartungen vollständig erfüllen.
Verfolgt man die Fachpresse und die Diskussionen in der Branche, wird schnell die Diskrepanz zwischen den aktuellen neuen Technologien und der Problemstellung klar: GenAI & Co. sind vor allem dazu geeignet, Versicherungsprodukte besser, attraktiver, vermarktbarer und an der informatorischen Schnittstelle zum Kunden auch effizienter zu machen – allerdings wird auch das noch dauern.
Wenn es jedoch darum geht, akute Probleme wie die Entlastung oder den Ersatz von Fachkräften, die Generierung von Dunkelverarbeitung sowie die Optimierung von Preisen und Risiken zu lösen, wird schnell deutlich, dass GenAI technologisch nur bedingt einsetzbar und nur eines von vielen Werkzeugen ist.
Ein pragmatischer Ansatz: Effizienz steigern mit dem richtigen Technologiemix
Angesichts dessen ist es ratsam, bei der Bewältigung der genannten Herausforderungen strikt nach dem Prinzip zu verfahren: „Das Werkzeug muss zum Problem passen, nicht umgekehrt“. Für aktuelle Produktoptimierungen und interne Effizienzsteigerungen, einschließlich der Optimierung von Versicherungskernprozessen, kommt ein bunter Technologiemix infrage: von Workflow-Software über Elastic Search und Algorithmen bis hin zu etablierten, klassischen KI-Modellen – alles zeitgemäß, auch wenn es nicht spektakulär klingt.
Ein Beispiel ist die Teileauswahl bei der Prüfung von Elementarschäden: Algorithmen durchsuchen Datenbanken nach bestmöglichen Materialteilen und spielen die Treffer, abgestuft nach Wahrscheinlichkeiten, in den Workflow der Experten ein. Ihre Entscheidungen werden in das System zurückgeführt, wodurch der Algorithmus fortlaufend optimiert wird. Das Ergebnis ist ein signifikanter Zeitgewinn im gesamten Prozess.
Die Gutfallselektion ist ein weiteres Beispiel: Je nach Produktspezifikation für die Kunden können auf Basis eines ökonomischen Modells Fälle mit ausreichender Konfidenz vor der Expertenprüfung ausgesteuert und dunkel verarbeitet werden. Sowohl für die Aufwandsoptimierung als auch für die Prozessentlastung auf der Seite des Versicherers hat dieses Vorgehen erheblichen Nutzen. Es handelt sich dabei um eine sehr effektive Machine Learning-Anwendung, eine KI, die aber gleichzeitig etabliert, intern gut zu handhaben und weitestgehend nachvollziehbar („explainable“) ist.
Auch etablierte Technologien wie RPA (Robotic Process Automation) können – bei richtiger Anwendung – die Umsetzung von End-to-End-Prozessen ermöglichen, ohne dabei einen technologischen Lock-in zu verursachen oder die Kern-Software zu modifizieren. So können Versicherer beispielsweise zeitnah in großem Umfang bestimmte Prozesse zielprozesskonform an Schadendienstleister übergeben, ohne dabei ihre eigene IT-Roadmap zu belasten.
Daten, Daten, Daten: Schlüssel für alte und neue Technologien
Die genannten Beispiele illustrieren eine wichtige Maxime nahezu aller relevanten zukünftigen Prozess- und Produktverbesserungen: Ohne eine solide Datenbasis und die konsequente Nutzung dieser Daten werden alle Anstrengungen suboptimal ausfallen oder gar scheitern. Die Prozessoptimierung auf Basis von Workflow-Software usw. ist auch bei den Versicherern inzwischen weitgehend ausgereizt. Ob einfaches Routing, Prozesssteuerung auf Basis von Algorithmen oder Entscheidungsvorbereitung mit KI-Tools – mehr als kleine inkrementelle Verbesserungen gibt es nur noch in einer ausreichenden Datenwelt.
Aber was ist mit den innovativen Technologien, deren Nutzung man keinesfalls verpassen möchte – ein oft geäußerter Vorwurf gegenüber Versicherern? Diese neuen Ansätze sollten auf Grundlage einer angemessenen Datenwelt in den Unternehmen niedrigschwellig und zielgerichtet projektiert werden. Niedrigschwellig bedeutet, dass dabei Prioritäten berücksichtigt werden und ein klarer Nutzen erkennbar ist. Zielgerichtet meint, dass der Nutzen ökonomisch messbar ist und über reine Medienwirksamkeit hinausgeht. Gerade am Rand und außerhalb der Kernwertschöpfung wird der kurzfristige Impact von GenAI erheblich sein, gleich ob Softwareentwicklung, Marketing, Call Center Routing usw.
Fazit: Bewährte Werkzeuge liefern wirksame Resultate
Angesichts von Schadeninflation und Fachkräftemangel stehen Versicherer unter einem akuten Handlungsdruck, in einem überschaubaren Zeitraum effizientere Prozesse und wirksame Resultate zu liefern. Die Verlockung, auf medienwirksame Technologien wie GenAI zu setzen, ist groß – doch oft bieten bewährte Technologien den entscheidenden und schnelleren Nutzen. Technologische Neuerungen erfüllen selten die vollen Erwartungen und fast nie die angestrebten Umsetzungszeiträume. Wer mit kühlem Kopf entscheidet, welche Technologien zu welchem Zeitpunkt für welches Problem sinnvoll sind, kommt schneller und besser an das gewünschte Ziel.
Versicherer sollten daher in hohem Maße auf erprobte oder in anderen Branchen bereits etablierte Technologien zurückgreifen. Dies ermöglicht eine zügige und effektive Problemlösung, während neue Technologien schrittweise und sinnvoll integriert werden. Entscheidend bleibt dabei die Datenbasis – sie ist das Fundament für den Einsatz sowohl bewährter als auch zukünftiger Technologien.
Verfasst von Eucon Group