Dienstag, 16. Juli 2019
Interdisziplinarität wird in der Immobilienwirtschaft bislang wenig praktiziert. Zu selten schaut man auch mal auf andere Branchen, nicht zuletzt bei der Digitalisierung. Dabei sind beispielsweise die Anforderungen an digitale Systeme in der Versicherungs- und in der Immobilienbranche häufig deckungsgleich. Ein gemeinsamer Startpunkt kann das Schadenmanagement sein. Daran können zahlreiche andere branchenspezifische Lösungen andocken. Das Ziel: ein branchenübergreifendes, digitales Ökosystem für alle gemeinsamen Geschäftsprozesse.
Dieser Gastartikel ist in der Ausgabe 7-2019 der Immobilien & Finanzierung erschienen.
Sowohl die Immobilienwirtschaft als auch die Versicherungsbranche in Deutschland zählen noch nicht zu den Vorzeigebranchen in der Digitalisierung. Dabei bieten sie viele, sogar gemeinsame Anknüpfungspunkte für digital darstellbare Prozesse. Mangelnde finanzielle Mittel dürften dabei in beiden Wirtschaftszweigen kein Hindernis sein. Wie der Digital-Atlas des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aufzeigt, richtet sich der Digitalisierungsgrad eines Wirtschaftszweiges nicht nach seiner Bruttowertschöpfung. So belegt die vergleichsweise kleine IT- und Kommunikationsbranche den ersten Platz im IW-Ranking. Die Versicherungswirtschaft belegt Platz sechs, drei Plätze dahinter folgen die gemeinsam betrachteten Unternehmen der Immobilien- und Bauwirtschaft. Wäre der Digitalisierungsstand proportional zur Bruttowertschöpfung, müsste die Immobilienbranche laut Statistischem Bundesamt mit elf Prozent Anteil daran eine führende Stellung einnehmen.
Digitalisierung ist vermutlich eher eine Frage der Denkweise und der Bereitschaft zur digitalen Transformation von Produkten und Geschäftsprozessen. Je datenintensiver eine Branche arbeitet, desto besser eignet sie sich für digitale Prozesse. Das IW hält darüber hinaus fest, dass die Branchengrenzen durch den Übergang von der produkt- zur datenbasierten Wirtschaft immer stärker verschwimmen. Spezifische Branchenkenntnisse sind in der Breite nicht mehr zwingend vonnöten, um als digitaler Dienstleister in einem bestimmten Wirtschaftszweig Fuß zu fassen. In dieser Hinsicht ist vielmehr die je nach Branche anzutreffende Kooperationsbereitschaft mit digitalen Dienstleistern – bis hin zu Beteiligungen an diesen Unternehmen – ein aussagekräftiger Gradmesser für die digitale Durchdringung. Diese Dienstleister können neu etablierte Unternehmen aus der Startup-Szene sein. Ebenso kommen aber auch digitale Mittelständler mit jahrzehntelanger Marktpräsenz bzw. -erfahrung – und nicht zwingend große Tech-Konzerne – für diese Funktion infrage.
PropTechs und InsurTechs als Digitalisierungstreiber
Die Begriffe PropTech (von property = Immobilie) und InsurTech (von insurance = Versicherung) bezeichnen den Branchenbezug eines Unternehmens, das digitale Lösungen für eine höhere Prozesseffizienz anbietet. Zu dieser Gruppe können kürzlich gegründete Startups ebenso zählen wie Unternehmen, die schon seit der ersten Digitalisierungswelle in den 1990er Jahren existieren. Zwar ist die Zahl der PropTechs in Deutschland laut der Erhebung des Portals proptech.de mit rund 300 Unternehmen aktuell etwa dreimal so hoch wie die der InsurTechs, deren Anzahl die Unternehmensberatung Oliver Wyman 2018 mit rund 100 bezifferte. Doch seit Ende 2015 entwickelt sich nach Angaben von comdirect das InsurTech-Geschäft mit einem Neugründungs-Plus von 70 Prozent bis Ende 2017 dynamischer (PropTechs: plus 22 Prozent im selben Zeitraum). 2019 sank zudem zum ersten Mal seit Erhebungsbeginn die Zahl der PropTechs.
Sowohl für die Versicherungs- als auch die Immobilienbranche gilt, dass das Geschäft mit Privatkunden für digitale Dienstleister im Fokus steht. Dies kommt auch dem Bedürfnis der Unternehmen entgegen: So zählten die in der Lünendonk-Studie von 2018 befragten Versicherer die Geschäftsbereiche Schadenmanagement (78 Prozent) und Vertrieb (72 Prozent), die sich größtenteils auf Privatkunden beziehen, zu den Segmenten mit dem größten Digitalisierungspotenzial. Die ebenfalls von Privatpersonen dominierte Mieterverwaltung war mit 74 Prozent der Antworten laut EY-Studie von 2018 auch unter den Immobilien-Asset-Managern die Nummer eins unter den digital aufzustellenden Geschäftsbereichen. Unter den knapp 300 deutschen PropTechs bauen zwei Drittel ihr Geschäftsmodell auf dem verbesserten Kontakt zwischen Immobilienunternehmen und Privatkunden auf.
Parallelen im Privatkundengeschäft
Versicherungsnehmer und Immobilienmieter weisen im Hinblick auf die Kundenkommunikation zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, die sich für digitale Prozesse anbieten. Ein Beispiel ist das Schadenmanagement. Schon heute können Kunden Schäden an ihrem Versicherungsobjekt wie beispielsweise ihrer Wohnung fotografisch festhalten, die zutreffende Schadenkategorie auswählen und ihrem Vermieter bzw. Versicherer digital übermitteln. Immerhin 30 Prozent der 2017 im Digitalisierungsbarometer der Real Estate Digitalization Initiative (REDI) befragten Property Manager bieten eine digitalisierte Schadenabwicklung an. Da es sich um wiederkehrende Massenprozesse handelt, kann in einem zweiten Schritt die automatisierte Bearbeitung erfolgen. Hierbei kommt Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz. Ihre Grundlage ist die Klassifizierung der möglichen Schadenfälle – vom Fensterbruch über den Heizungsausfall bis hin zum Wasserschaden. KI-Lösungen erkennen und kategorisieren den auftretenden Schaden, zugleich prüfen sie die Vollständigkeit der vom Kunden eingereichten Belege zum Schadenfall. Dies setzt voraus, dass die Belege als ein bestimmter Dokumententyp erkannt werden, wie beispielsweise eine Rechnung über eine Reparaturleistung eines Abflusses, erkannt werden. Die Praxiserfahrung zeigt, dass bereits 20 Prozent aller Schadenfälle vollautomatisiert durch KI-Lösungen ohne jegliche manuelle Nachbearbeitung abgewickelt werden können. Die zuständigen Sachbearbeiter im Versicherungsunternehmen können nach erfolgter Prüfung einsehen, in welcher Höhe eine Schadenregulierung anfällt. In Immobilienunternehmen gibt es Plattform-Lösungen, die nach Eingang der Schadenmeldung den entsprechenden Handwerkerauftrag auslösen. Versicherungen könnten die Schadenregulierung über dieselbe Plattform wie ihre immobilienwirtschaftlichen Kunden realisieren.
Plattformen entfalten ihr ganzes Potenzial gemäß dem vorhandenen Datenbestand. Big Data wird dann zu Smart Data, wenn die verfügbaren Daten, zum Beispiel aus Versicherungsfällen oder Dienstleisterrechnungen, geordnet und mit genügend langer Historie vorliegen. Die Datenmenge ist nicht zuletzt ein Schlüssel für die Wirksamkeit der KI, die durch Trainingsdaten „lernt“ und sich fortentwickelt. Der Zugriff auf den Datenbestand ist daher unabdingbare Voraussetzung für effiziente Kooperationen zwischen Branchenakteuren und digitalen Dienstleistern.
Datenschätze unternehmensintern heben
Den enormen Schatz an Daten zu nutzen wird zur entscheidenden Wettbewerbsfrage. Marktakteure aus Versicherungs- und Immobilienbranche können neuen Dienstleistern Einblicke in ihre Daten gewähren. Alternativ können sie mit digitalen Mittelständlern kooperieren, die nach jahrzehntelanger Geschäftspraxis bereits einen eigenen umfangreichen Datenbestand aufgebaut haben und sich aufgrund dieses Daten- und Erfahrungsschatzes als Partner für die effizientere Gestaltung unternehmensinterner Prozesse anbieten.
Ein branchenübergreifendes Beispiel hierfür ist auch das Rechnungsmanagement. Rechnungen zählen zu den skalierbaren Dokumententypen, da ihr Aufbau strukturell ähnlich ist. Es gibt darüber hinaus Parallelen unter den Branchen bei den Genehmigungsinstanzen bis zur Freizeichnung einer Rechnung. Versicherungen arbeiten größtenteils mit Schadenrechnungen, Immobilienunternehmen beziehen Dienstleisterrechnungen auf Basis vorher verabredeter Leistungsverzeichnisse. Gerade der Abgleich zwischen Leistungsbeschreibung und Rechnungsstellung folgt festen Kategorien. Der Prozess erfüllt alle Anforderungen für eine KI-gestützte Digitalisierung. KI-Technologie kann hierbei nicht nur die Dokumente einlesen, kategorisieren und kontierungsfähig vorbereiten, sondern auch preisliche Handlungsempfehlungen geben. Die Angemessenheit von Dienstleisterrechnungen und ihre Deckungsgleichheit mit den zugrundeliegenden Angeboten kann dann beispielsweise über Preisdatenbanken nachgewiesen werden. Dadurch ist ein Abgleich zwischen Rechnung und den aktuellen Material- oder Ersatzteildaten, Stundenverrechnungssätzen sowie Partnervereinbarungen möglich. Im Falle von Gebäudeversicherungen ergeben sich unmittelbare Schnittmengen zwischen Versicherungs- und Immobilienwirtschaft. Unter den im REDI-Digitalisierungsbarometer befragten Immobilienunternehmen verfügen knapp 30 Prozent über einen vollautomatisierten Rechnungsworkflow – ein vergleichsweise niedriger Wert angesichts der sofortigen Implementierbarkeit entsprechender Lösungen, die stets auch an den individuellen ERP-Systemen der Kunden andocken können.
Ziel: Datenplattformen als Ökosysteme
Ein durchgängig digitaler Rechnungsworkflow ist ein ideales Beispiel einer Prozessoptimierung, die sich aus effektiver Datennutzung ergibt. Die aktuell verfügbaren Daten bieten gleichwohl noch weitere Optionen für deutliche Effizienzgewinne. Das bereits jetzt zumindest technisch mögliche Ziel für beide Branchen ist eine Plattformlösung, die mehrere Prozesse im Sinne eines digitalen Ökosystems miteinander verzahnt. Seitens der Anbieter gilt es hierbei, Schnittstellen sicherzustellen und mit ihrer jeweiligen Lösung einen Mehrwert für die Plattform zu generieren. Die digitalen Lösungen würden dann ähnlich andocken wie Apps an den Betriebssystemen eines Smartphones. Unternehmensseitig könnten dann beispielsweise neben den eingespeisten Rechnungsdaten auch Transaktions- oder Mietverwaltungs-Daten in die Plattform eingebracht werden.
Tatsächlich haben bereits über 70 Prozent der von REDI befragten Immobilienunternehmen schon einmal einen digitalen Datenraum für Transaktionen benutzt. Doch nicht nur für Transaktionen bieten sich Datenräume an. Auch die laufende Verwaltung der Objekte kann in einem sogenannten Lifecycle-Datenraum erfolgen, der für Versicherungs- und Immobilienunternehmen gleichermaßen sinnvoll ist. Der Rechnungsworkflow mit breiter Datenbasis im Sinne der beschriebenen Preisdatenbank kann hierfür ein gut geeigneter Ausgangspunkt sein. Generell gilt für die Digitalisierung: Wer Daten effizient zu erschließen weiß, besitzt den entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Daher ist es nicht verwunderlich, dass über 80 Prozent der befragten Versicherer im „World Insurtech Report“ von 2018 Amazon oder vergleichbare Tech-Konzerne mit umfangreichem Datenvolumen als größte Herausforderung für ihr Geschäftsmodell ansehen. Einzelne Akteure alleine werden den Technologiesprung kaum realisieren können. Das Orchestrieren eines Ökosystems wird daher zur Kernkompetenz. Digitale, kooperative Plattformen sind folglich für die europäische Versicherungs- und Immobilienbranche immer mehr auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit.
Versicherung und Immobilien: Sinnhaftigkeit branchenübergreifender Digitalisierung
Das Beispiel der beiden Wirtschaftszweige, die zusammen laut den beiden Branchenverbänden ZIA und GDV rund 17 Prozent der Bruttowertschöpfung in Deutschland ausmachen, zeigt gemeinsame Ansatzpunkte für digitale Prozesse auf. Die finanziell gute Ausstattung der beiden Wirtschaftszweige bei größtenteils wenig eigener Digitalisierungsexpertise legt strategische Kooperationen mit Dienstleistern der Digitalwirtschaft nahe. Auch wenn digitale Dienstleister ihre Lösungen für effizientes Datenmanagement rasch auf andere Branchen übertragen können, sind doch tiefgreifende Kenntnisse der branchenspezifischen Prozesse eine Voraussetzung für erfolgreiche und langfristige Kooperationen. Digitalisierung beinhaltet in erster Linie eine Vereinfachung der Prozesse. Intern resultieren daraus Kosten- und Zeitreduktionen, extern eine Serviceoptimierung. Der verbesserte Service umfasst eine Aufwertung des Kundenerlebnisses bis hin zur individuell zugeschnittenen Kundenberatung. Digitalunternehmen, die Schwerpunkte im Geschäftsmodell setzen und zugleich skalierbare Prozesse zwischen den Branchen identifizieren, besitzen als Kooperationspartner einen deutlichen Wettbewerbsvorteil. Dieser interdisziplinäre Ansatz könnte die gegenwärtig wachsende Digitalisierungsschere zwischen Unternehmen und Branchen schließen.
Die Autoren:
Dr. Alexander Erdland ist Mitglied des Beirats der Eucon Group. Von 2006 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender der Wüstenrot & Württembergische AG. Von November 2012 bis September 2017 war Erdland zudem Präsident des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Foto: © GDV
Heike Gündling ist Managing Director Real Estate der Eucon Digital GmbH, Foto: © Eucon
Verfasst von Eucon Digital und abgelegt in